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09 | 2023Stefan Kaletsch

Mehr Verständigungsbereitschaft für das Gemeinwohl - Dialogveranstaltungen für kollektive Handlungsfähigkeit

<h1>Mehr Verständigungsbereitschaft für das Gemeinwohl - Dialogveranstaltungen für kollektive Handlungsfähigkeit</h1>

Demokratie ist auf das Engagement ihrer Bürgerinnen und Bürger angewiesen. Mindestanforderung ist der Gang zur Urne. Und eigentlich ist auch im Vorfeld die Initiative zur Informationsbeschaffung und rationalen Abwägung der vorgebrachten Argumente erforderlich. Nun ist es kein Geheimnis, dass ein nicht unbeträchtlicher Teil der Wahlberechtigten nicht einmal seine erste demokratische Pflicht erfüllt. Und bei der Beschaffung vertrauenswürdiger Informationen und der Abwägung von Argumenten ist ebenfalls noch viel Luft nach oben. Für Letzteres kann man durchaus noch Verständnis finden, zumindest dann, wenn es sich um zu viele oder auch zu komplexe Themen handelt. Dort ist ein gewisses Vertrauen unerlässlich – insbesondere, wenn es um das Gemeinwohl geht.

Im Fall kommunaler Bürgerbeteiligungen, mit Hilfe derer man die demokratische Praxis intensivieren möchte, gelten grundsätzlich dieselben Bedingungen. Sie erfordern insbesondere bei der informellen Beteiligung ebenfalls Engagement – nicht nur von Politikern und Projektierern, sondern auch von Bürgerinnen und Bürgern. Das beginnt mit der Bereitschaft, die entsprechenden Angebote zur Information, Diskussion und Mitsprache wahrzunehmen. Doch allein die Anwesenheit reicht nicht aus. Notwendig sind auch eine konstruktive Diskussionskultur sowie eine Verständigungs- und Kompromissbereitschaft für gesamtgesellschaftliche Interessen. Generell sind Kompromisse für eine Demokratie konstitutiv und dienen dem Interessenausgleich verschiedener Anspruchsgruppen, zu denen – wie im Fall der Energiewende – auch überregionale Interessen gehören.

Tendenz zu einer narzisstischen Gesellschaft

In der Beteiligungspraxis erlebt man leider nicht selten eine weitgehende Ignoranz dieser Grundvoraussetzungen. Das erste Problem besteht darin, dass die Dialogveranstaltungen häufig überproportional von solchen Bürgerinnen und Bürgern wahrgenommen werden, die ein sehr spezielles Anliegen haben und sie schlimmstenfalls als reine Protestplattform missbrauchen. Wer auch Verständnis für allgemeinere Interessen und Notwendigkeiten aufbringt, fühlt sich weit weniger zu einem Engagement berufen. Das führt zu einer Schieflage in der Interessenvertretung.

Das zweite Problem, das mit dem ersten verbunden ist, besteht darin, dass eine Dialogveranstaltung – sei sie auch noch so mediativ konzipiert – oftmals nicht mit rationalen und toleranten Diskussionen durchgeführt werden kann, weil die ignorantesten Teilnehmer:innen gleichzeitig die lautesten sind. Ein Phänomen, das insgesamt in unserer Demokratie in den letzten Jahren stark zugenommen hat. Manche Beobachter sprechen sogar schon von einer narzisstischen Gesellschaft, in der eine enorme Zunahme der individuellen Selbstüberhöhung zu beobachten ist. Zu ihr gehören auch ungebremste Beschuldigungen, Beleidigungen, Beschämungen und krude Verschwörungsmythen, die nur die eigenen „Wahrheiten“ und Überzeugungen gelten lassen.

Individuelle Freiheit braucht auch kollektive Handlungsfähigkeit

Es gibt mehrere diskutierte Ursachen und Thesen für diese Entwicklung. Eine besteht in der Annahme, dass die Möglichkeiten der Selbstdarstellung sowie der systematischen Organisation von wenigen sogenannten Querulanten durch das Internet an Bedeutung gewonnen haben. Eine andere verweist auf den gewachsenen Wohlstand und ein verbreitetes Besitzwahrungsverhalten, womit sich die Bereitschaft zu einschränkenden Zugeständnissen zugunsten des Gemeinwohls verringert hat. Eine dritte bezieht sich auf die Beobachtung, dass sich viele Bürgerinnen und Bürger gegenüber dem Staat mittlerweile wie Kunden gegenüber Unternehmen verhalten: Man zahle Steuern und dürfe dafür eine direkte Befriedigung seiner individuellen Bedürfnisse erwarten. Doch so kann Gesellschaft nicht funktionieren.

Wir zelebrieren die individuelle Freiheit und schießen mittlerweile damit über das Ziel hinaus. Individuelle Freiheit braucht auch kollektive Handlungsfähigkeit, die nicht jedem Sonderinteresse voll gerecht werden kann. Es ist seit Längerem eine häufig zu beobachtende Haltung, dass von der Politik zwar alles verlangt wird, „but not in my backyard“. Es bedarf wohl keiner näheren Erklärung, dass sich auf dieser Grundlage nichts wirklich verändern lässt. Es ist somit auch nicht überraschend, dass sich in Einzelfällen bereits Kommunalpolitiker der Diskussion und notwendigen Kompromissen bezüglich gesamtgesellschaftlicher Interessen kategorisch verweigern. Wir brauchen bei aller Beachtung individueller und kommunaler Interessen auch eine verstärkte Orientierung an kollektiven Lösungen für das Gemeinwohl. Das betrifft nicht zuletzt den Ausbau von Infrastrukturen, der unweigerlich meist kommunale Zugeständnisse erfordert – sei es beim Ausbau von Windenergie, der Errichtung von Industrieanlagen, der Verlegung von Stromtrassen oder der Erweiterung des Schienennetzes.

Wertebewusstsein gegenüber demokratischen Verhandlungsformen

Damit kollektiv notwendige Maßnahmen ein Minimum an Beeinträchtigungen der lokalen Bevölkerung bewirken und gleichzeitig ihre Bedeutung für die Gesamtgesellschaft verständlich werden, sind ehrliche und ernstgemeinte Dialogveranstaltungen wichtig und hilfreich. Doch sie können nur dann fruchtbar sein, wenn sie nicht von reinem, mitunter narzisstischem Protest gegen jegliche Veränderungen getragen werden. Und schon gar nicht, wenn dieser Protest zwar laut und unerbittlich, aber keinesfalls repräsentativ ist. Das nexus Institut für Kooperationsmanagement und interdisziplinäre Forschung GmbH resümiert in einer jüngst veröffentlichten Studie im Auftrag der Wissenschaftsplattform Klimaschutz, dass Dialogveranstaltungen, sofern sie „offen, transparent und bürgernah“ konzipiert sind, „potenzielle Beschleunigungseffekte“ für den Ausbau von Erneuerbaren Energien besitzen. Zudem seien sie geeignet für eine „Festigung des Wertebewusstseins der Teilnehmenden gegenüber demokratischen Verhandlungsformen und die Stärkung der demokratischen Kompetenzen“. Eine gut konzipierte und durchgeführte Dialogveranstaltung sollte den Beteiligten nicht nur die Chance bieten, ihre Meinung zu sagen, sondern auch zu reflektieren und dort, wo es möglich ist, durch das Einbringen eigener Ideen Selbstwirksamkeit zu erfahren.

 

Weitere Informationen:

Wissenschaftsplattform Klimaschutz: „Beteiligung – Beschleunigung oder Bremse für die Energiewende?“ - Studie über Effekte von Beteiligungsformaten auf die Beschleunigung oder Verlangsamung von Infrastrukturprojekten zur Energiewende.