01 | 2022Maria Röhreich

Streitpunkt: False Balance & journalistische Ausgewogenheit

<h1>Streitpunkt: False Balance & journalistische Ausgewogenheit</h1>

Kritik an der journalistischen Berichterstattung kommt längst nicht nur von Medienskeptikern, sondern auch von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen, die sich um eine verzerrte Darstellung von Forschungsergebnissen und politischen Debatten sorgen – die Rede ist von False Balance, oder falscher Ausgewogenheit. Doch was steckt hinter diesem Vorwurf und was bedeutet er für die Medien und den Journalismus? Eine Auseinandersetzung mit dem Phänomen zeigt, wie wichtig es ist, für False Balance zu sensibilisieren und sich den Problemen dahinter bewusst zu werden.   

Was ist False Balance? 

Von False Balance spricht man, wenn in der Berichterstattung kontroverse Positionen gleichwertig dargestellt werden, obwohl sie es eigentlich nicht sind. Was damit gemeint ist, wird an extremen Beispielen besonders deutlich: Wenn in einer Talkshow ein Verschwörungsideologe mit einer renommierten Wissenschaftlerin diskutieren soll, dann hat die Wissenschaftlerin höchstwahrscheinlich evidenzbasierte Forschung auf ihrer Seite – der Verschwörungsideologe eher nicht  . Bekommen aber beide Parteien dieselbe Redezeit und dürfen ihre Argumente gleichberechtigt präsentieren, kann bei den Zuschauenden der Eindruck entstehen, die beiden Gäste würden Ansichten vertreten, die sich tatsächlich ausgewogen gegenüberstehen. 

False Balance InfografikEine gleichgewichtete Darstellung von in der Realität unausgewogenen Positionen führt zu False Balance.

Was an Beispielen wie diesem noch recht offensichtlich erscheint, ist in der Praxis jedoch oft deutlich schwieriger zu erkennen. Je komplexer oder unbekannter eine Thematik ist, desto weniger können Außenstehende beurteilen, ob die Verteilung der dargestellten Positionen auch den tatsächlichen Mehrheitsverhältnissen entspricht oder ob False Balance vorliegt. Geht man nun davon aus, dass viele Menschen sich ihre Meinung aus objektiven Medienberichten bilden wollen, dann kann False Balance dazu beitragen, dass sich Fake News als vermeintliche Fakten etablieren. Doch nicht nur für Fernsehzuschauende ist False Balance in diesem Moment ein Problem. Das Phänomen hinterlässt seine Spuren auch in politischer Entscheidungsfindung und vor allem in der breiten Medienlandschaft.   

Wodurch entsteht False Balance? 

Die Betrachtung von False Balance ist unter anderem deshalb so komplex, weil sich die Debatte häufig im Kreis dreht. Denn der Grund für die Verzerrung ist paradoxerweise das journalistische Bemühen, Verzerrung zu vermeiden. Journalisten sind in den seltensten Fällen Experten in den Themengebieten, über die sie berichten – ihre Profession ist schließlich der Journalismus. Abgesehen von Fachjournalisten können sie daher als fachfremde Personen nur schwer beurteilen, ob ein Experte seine Argumente auf wissenschaftlichen Erkenntnissen oder auf subjektiven Spekulationen aufbaut. Die naheliegende Lösung ist, mindestens eine Gegenstimme zu Wort kommen zu lassen, eine andere Meinung aus demselben Fachdiskurs. So soll einseitiges, also verzerrtes, Berichten vermieden werden. Eines wird in der Auseinandersetzung mit False Balance allerdings häufig übersehen: Wissenschaftliche und gesellschaftliche Debatten unterliegen vollkommen anderen Bedingungen.   

Balance in Demokratie & Wissenschaft 

Bei wissenschaftlichem Konsens zählt nicht die Mehrheitsmeinung, sondern die stärkste Evidenz, also der Nachweis durch überprüfbare Methoden. Verwechselt wird dies oft, weil gerade bei lang bestehenden Forschungsergebnissen die stärkste Evidenz auch die meisten Forschenden hinter sich versammelt. Ein möglicher Vorschlag gegen False Balance ist, bei der Berichterstattung die Gewichtung der Beiträge nach Evidenzen vorzunehmen. „Aus demokratietheoretischer Sicht ist dieser Vorschlag unproblematisch, solange die Offenheit für neue Evidenzen gewahrt bleibt, die alte Gewissheiten und Paradigmen der Forschung ablösen können“1, heißt es dazu in einer Schriftenreihe der Deutschen Gesellschaft für Publizistik und Kommunikationswissenschaft. Das Problem in der Praxis ist natürlich zum einen, dass Journalisten Evidenzen nur schwer einschätzen können. Zum anderen geht es in der medialen Berichterstattung selten um rein wissenschaftliche Debatten. Stattdessen spielen beinah immer politische, soziale oder wirtschaftliche Faktoren in eine Problemstellung hinein – demokratische Perspektiven, bei denen es nicht um Konsens geht, sondern darum, jede Sichtweise ernst zu nehmen.
Und an genau dieser Stelle sollte man aufpassen, den Vorwurf der falschen Ausgewogenheit nicht zu missbrauchen. Denn allzu leicht kann False Balance auch ein Stempel werden, um unbequeme Ansichten abzuwerten. Indem man beispielsweise die Perspektive von Menschen mit Behinderung als medial überrepräsentierte Minderheitenmeinung darstellt, übergeht man einen Teil der Gesellschaft, der ohnehin in der öffentlichen Wahrnehmung untergeht. Auch wenn dieses Beispiel wieder bewusst extrem gewählt ist, verdeutlicht es, wie komplex die Betrachtung falscher Balance sein kann. An welcher Stelle die hergestellte Ausgewogenheit von Meinungen oder Perspektiven gerechtfertigt ist und wo nicht, hängt letztendlich vom Themengebiet ab. An validen wissenschaftlichen Erkenntnissen muss man nicht rütteln, die sozialen, gesellschaftlichen und politischen Perspektiven darauf sollten hingegen so differenziert wie möglich beleuchtet werden.   

Wie können wir False Balance begegnen? 

Insgesamt sind die Probleme rund um False Balance in den Medien also recht komplex. Trotzdem gibt es einige Lösungsansätze, mit denen man dieser Komplikation begegnen kann – und zwar an mehreren Stellen des Kommunikationsprozesses. So kann es auf der einen Seite den Zuschauern, Leserinnen oder Hörern helfen, das Bewusstsein für False Balance zu erhöhen. Wer sich darüber im Klaren ist, dass gleichmäßige Repräsentationen in den Medien nicht automatisch reale Verteilungen von Meinungen widerspiegeln, kommt dadurch weniger zu verzerrten Überzeugungen.
Auf der anderen Seite tragen natürlich auch die Medienschaffenden selbst eine Verantwortung dafür, der Gefahr von False Balance sensibel zu begegnen. Die wohl wichtigste Maßnahme, um ein Themengebiet möglichst objektiv zu vermitteln, ist nicht nur die Gegenüberstellung von Expertenmeinungen, sondern vor allem deren Einordnung. Wer äußert sich in diesem Beitrag? Welchen fachlichen oder persönlichen Hintergrund hat die Person? Welche Interessen verfolgt sie? Einordnung und Transparenz sind die wohl stärksten Mittel, um nicht nur False Balance, sondern auch anderen Problemen des gegenwärtigen Journalismus zu begegnen. Vielleicht kann auf diese Weise nach und nach das verlorene Vertrauen in die Medienlandschaft wieder aufgebaut werden. 

1 Petra Werner, Lars Rinsdorf, Thomas Pfeil, Klaus-Dieter Altmepppen (Hrsg.): Verantwortung – Gerechtigkeit – Öffentlichkeit. Normative Perspektiven auf Kommunikation, Köln: Herbert von Halem Verlag 2017. (siehe Verantwortung – Gerechtigkeit – Öffentlichkeit | Herbert von Halem Verlag (halem-verlag.de)).