08 | 2020Stephanie Wohlt

Vielfalt simulieren: Mit Fokusgruppen Einblicke in die öffentliche Diskussion gewinnen

<h1>Vielfalt simulieren: Mit Fokusgruppen Einblicke in die öffentliche Diskussion gewinnen</h1>

Ob der Verlauf einer Stromtrasse im Zuge des Netzausbaus, der Bau einer Gasleitung oder die Errichtung eines neuen Stadtquartiers: Bau- und Infrastrukturprojekte sorgen immer wieder für hitzige Diskussionen und Gegenwind. Woran liegt das? Während der Vorhabenträger vor allem das große Ganze im Blick hat, die baulichen und technischen Aspekte berücksichtigt und eher auf einer abstrakten Ebene agiert, sind die Menschen im unmittelbaren Umfeld direkt in ihrer ganz persönlichen Lebensrealität betroffen. Unbekanntes kann Ängste schüren, Veränderung kann bedrohlich wirken – weiß schon die Sozialpsychologie. Beides kann zu Widerstand führen. Für die erfolgreiche Umsetzung von Bau- und Infrastrukturprojekten ist es jedoch wichtig, auch eine Akzeptanz für das Projekt in der Öffentlichkeit zu schaffen. Wie kann das gelingen? Indem erkannt wird, was die Bürgerinnen und Bürger umtreibt, welche Ängste, Sorgen, Erwartungen und Einwände sie haben und indem ein tieferes Verständnis für ihre Einstellungen und Meinungen gegenüber dem Vorhaben erlangt wird. Mit diesem Wissen ist es möglich, die Argumentationsweisen der Betroffenen besser nachzuvollziehen, sie mitdenken und angemessen darauf reagieren zu können. Was es braucht, ist das Wissen um die öffentliche Diskussion. Hier kommt das sozialwissenschaftliche Instrument der Fokusgruppen ins Spiel: als Simulation der öffentlichen Diskussion im Kleinen. 

Was sind Fokusgruppen?

Eine Fokusgruppe besteht aus 5 bis 12 Teilnehmenden, die unter Anleitung eines Moderators/einer Moderatorin auf ein Thema „fokussieren“ und dieses diskutieren. Die Methode gehört zur qualitativen Forschung, und zielt darauf ab, tiefergehende Einblicke in die Einstellungen, Meinungen, Bedenken, Sorgen und Argumente der Teilnehmenden zu erlangen (anders als die quantitative Forschung, die Repräsentativität durch hohe Fallzahlen anstrebt). Daher stehen bei Fokusgruppen auch ganz klar die Diskutantinnen und Diskutanten im Mittelpunkt und bestimmen Ablauf und Gestaltung der Diskussion. 

Wie laufen Fokusgruppen ab?

Die Teilnehmenden werden auf Basis festgelegter Kriterien wie beispielsweise Alter, Geschlecht, Wohnort und Betroffenheit zur Diskussion zu einem Themenkomplex eingeladen. Damit wird vermieden, dass nicht nur selbst-selektierte Interessierte teilnehmen, die auch bei Bürgerbeteiligungsformaten oder anderen öffentlichen Veranstaltungen auftreten würden, sondern auch „ganz normale“ Menschen Gehör finden, die sich sonst eher weniger mit dem Thema beschäftigen oder zurückhaltender sind. Denn Ziel der Fokusgruppe ist es, ein möglichst vielseitiges Bild der Meinungen, Einstellungen und Argumentationsweisen zu dem Bau- oder Infrastrukturprojekt zu erhalten und dem öffentlichen Diskurs möglichst nahe zu kommen.  

Zu Beginn der Diskussion gibt der Moderator/die Moderatorin einen Grundreiz bzw. eine Leitfrage vor und greift ansonsten nur in die Diskussion ein, wenn diese stockt oder das Thema aus den Augen gerät. Dafür wird ein Diskussionsleitfaden verwendet, der als Orientierung dient. Der Verlauf der Diskussion ist also weitestgehend offen, dynamisch und flexibel und kommt so den Diskussionen, wie sie im Alltag vieler Menschen täglich stattfinden, am nächsten. Dies Alltagsnähe ist für das Setting der Diskussion in der Fokusgruppe wichtig. Denn wenn die Teilnehmenden entspannt sind und sich in einer möglichst natürlichen Umgebung befinden, steigt die Wahrscheinlichkeit auch ehrliche Meinungen zu hören.

An die tatsächlichen Meinungen herankommen – durch die Diskussion in der Gruppe

Der Vorteil der Fokusgruppe gegenüber Einzelinterviews liegt ganz klar in der Dynamik der Gruppe und in der gegenseitigen Stimulation der Teilnehmenden. Die Tatsache, dass Meinungen und Einstellungen nicht für sich stehen, sondern auch gesellschaftlich bedingt und in soziale Kontexte eingebettet sind, wird in der Fokusgruppe berücksichtigt. Denn häufig wird Menschen die eigene Meinung erst wirklich bewusst, wenn sie mit anderen Meinungen und Argumenten konfrontiert sind. Eine hitzige Diskussion kann dazu führen, dass die Teilnehmenden durch spontane und freie Äußerungen Meinungen darlegen, die sie bei einem Einzelinterview eher zurückhalten würden. Fokusgruppen arbeiten somit am Kern und können die Stellschrauben für eine wirksame Akzeptanzkommunikation aufzeigen.

Welchen Mehrwert bringen Fokusgruppen für Bau- & Infrastrukturprojekte?

Um ein ausgewogenes Bild der Meinungen zu erhalten und Ausreißer zu vermeiden, sollten mindestens zwei – besser vier bis acht Fokusgruppen – durchgeführt werden. Durch Fokusgruppen kann ein tieferes Verständnis der Sorgen, Erwartungen, Ängste und Argumente von Bürgerinnen und Bürgern gegenüber einem Bau- oder Infrastrukturprojekt erlangt werden. Es lässt sich herausfinden, wie es um Wissenstand und Stimmung gegenüber dem Projekt bestellt ist, wo ein Bedarf für weiterreichende Information und Kommunikation besteht und welche Themen und Aspekte in der Öffentlichkeit diskutiert werden. Als Teil der Akzeptanzkommunikation stellt die Fokusgruppe somit ein relevantes Werkzeug dar und kann eine Alternative oder Ergänzung üblicher Bürgerbeteiligungsformate sein.