04 | 2023Ingo Seeligmüller

Kommentar: Klimaschutz braucht pragmatische Bürgerbeteiligung vor Ort – keinen neuen Gesellschaftsrat

<h1>Kommentar: Klimaschutz braucht pragmatische Bürgerbeteiligung vor Ort – keinen neuen Gesellschaftsrat</h1>

Die Aktivistengruppe „Letzte Generation“ hat in der Vergangenheit mit einigen grenzwertigen Aktionen versucht, das Thema Klimaschutz in den Fokus gesellschaftlicher Debatten zu rücken. Anders als mit ihren spektakulären rechtswidrigen Demonstrationen, bei denen sie sich auf Autobahnen festgeklebt oder Speisen auf Kunstwerke geworfen haben, erhebt die Protestgruppe neuerdings die Forderung, durch die Bildung eines so genannten Gesellschaftsrats die Regierung zu veranlassen, zukünftig mehr für den Klimaschutz zu tun. Er solle per Los aus allen Teilen der Gesellschaft zusammengesetzt werden mit dem Auftrag, einen mehrheitlich getragenen Weg aufzuzeigen, wie Deutschland bis 2030 sozial verträglich klimaneutral werden kann. Im Deutschlandfunk äußerte sich kürzlich ein Sprecher der Letzten Generation. Man sehe ein Repräsentationsproblem in der Bundesregierung, die zu 80 Prozent aus Akademiker:innen bestehe. Im Übrigen sei man davon überzeugt, dass der Gesellschaftsrat ein Maßnahmenpaket vorschlagen werde, das deutlich über die bisherigen Anstrengungen der Regierung hinausgeht. Was ist von diesem Vorschlag zu halten?

Zweifel an einem allumfassenden Gesellschaftsrat

Die Idee, durch eine verstärkte Partizipation das Verantwortungsbewusstsein und die Akzeptanz notwendiger Maßnahmen in der Bevölkerung zu steigern, wird in der Literatur bereits seit langem befürwortet und schlug sich sogar im Koalitionsvertrag der Ampelregierung nieder. Jedoch wird ihr Erfolg allgemein in Abhängigkeit vom konkreten Zuschnitt und Ausmaß der Öffentlichkeitsbeteiligung gesehen. Im Fall des Vorschlags der Letzten Generation stellen sich vor allem folgende Fragen: Ist damit tatsächlich eine bessere Repräsentanz als in den demokratisch legitimierten Parlamenten zu erreichen? Was passiert, wenn der erarbeitete Plan des Gesellschaftsrats ebenfalls nicht ambitioniert genug ist? Besteht zudem nicht die Gefahr, dass der Maßnahmenkatalog zu einem Wunschzettel wird, dessen Finanzierung unerfüllbar bleibt? Woher nehmen die Ratsmitglieder die notwendige Expertise für die sehr komplexe Thematik, ohne letztendlich auf dieselben Quellen – einschließlich sachkundigen Lobbyisten – angewiesen zu sein, auf die auch die Bundesregierung ihre Entscheidungen stützen muss? Und schließlich: Kann der erarbeitete Maßnahmenkatalog die von der Verfassung garantierte Entscheidungsfreiheit der Parlamentarier:innen tatsächlich spürbar beeinflussen?

Die zentralen Probleme beim Ausbau von Erneuerbaren Energien müssen vor Ort gelöst werden

Mehr Öffentlichkeitsbeteiligung ist sicherlich ein Gebot der Stunde. Doch sollte sie gerade bei dem zentralen Thema des Ausbaus der Erneuerbaren Energien in einer sehr viel pragmatischeren und kontrollierteren Weise auf kommunaler Ebene organisiert werden. Hier stellen sich weit konkretere Herausforderungen, die auch dem Subsidiaritätsprinzip entsprechend am besten bewältigt werden können. Die jüngst verabschiedeten Beschleunigungsgesetze haben hierfür gute Möglichkeiten eröffnet. Sie verpflichten zwar die Kommunen, mehr Flächen für die Errichtung von Anlagen wie Windräder und Sonnenkollektoren zur Verfügung zu stellen, überlassen es ihnen und den zwischengeschaltenden Bundesländern aber, wie und wo genau sie das tun. Innerhalb dieses klar definierten Zielkorridors und der Rahmenbedingungen der Länder haben die Gemeinden nun die Möglichkeit, ihre gesetzliche Pflicht zu erfüllen. Losbasierte Bürgerräte auf kommunaler Ebene könnten hier durchaus dazu beitragen, mehr Akzeptanz für den Ausbau von Windkraft- und Solaranlagen zu schaffen und damit den nationalen Klimaschutz pragmatisch voranbringen.

Zufallsauswahl funktioniert

Bezüglich der Methode einer zufälligen Auswahl können bestehende Zweifel weitgehend ausgeräumt werden. Es gibt mittlerweile belastbare empirische Befunde, welche ihre Machbarkeit mit positiven Effekten belegen. So hat beispielsweise eine Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung acht Beteiligungsprozesse per Zufallsauswahl der Landesregierung Baden-Württemberg untersucht. Dort wurden für ihr Gelingen allerdings zwei wesentliche Erfolgsfaktoren genannt: Die Begleitung durch eine professionelle Moderation sowie Transparenz bezüglich des Gestaltungsspielraums und der Entscheidungshoheit, die letztendlich in der legitimierten politischen Ebene bleiben müsse.

 

Weiterführende Informationen:

Deutschlandfunk: Gesellschaftsrat für Klimaschutz? Interview mit Theodor Schnarr, Letzte Generation.

Blogbeitrag NeulandQuartier: Studie zeigt, Bürgerbeteiligung per Zufallsauswahl funktioniert.