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12 | 2021Christopher Sieben

Bürgerräte: Ein realistischer Blick auf innovative Partizipationskonzepte

<h1>Bürgerräte: Ein realistischer Blick auf innovative Partizipationskonzepte</h1>

Stuttgart 21 gilt als Paradebeispiel für eine misslungene Bürgerbeteiligung. Ein über mehrere Jahre verhärteter Konflikt, der sich erst merklich durch den 2011 durchgeführten Volksentscheid entspannt.
Die neue Landesregierung unter Ministerpräsident Winfried Kretschmann hatte als Reaktion eine „Politik des Gehörtwerdens“ ins Leben gerufen und zahlreiche Neuerungen eingeführt, um die frühzeitige Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern zu stärken. Doch was können partizipative Formen von Bürgerbeteiligung eigentlich leisten?   

Bürgerräte: Die Lösung für mangelnde Bürgerbeteiligung!? 

Mitbestimmungsmöglichkeiten für das direkte Lebensumfeld, aber auch allgemeine Möglichkeiten, sich als „Normalbürger“ am politischen Prozess zu beteiligen, fehlen nicht erst seit Stuttgart 21. Schon länger steht die Frage im Raum, wie die Bedürfnisse von Bürger und Bürgerinnen besser in den politischen Alltag integriert werden können, auch um Politikverdrossenheit vorzubeugen. Gerade in Krisenzeiten entstehen dadurch neue Herausforderungen: Digitale Beteiligung - Ja, klar! Aber wie? / NeulandQuartier. Bürgerräte gewinnen in diesem Kontext zunehmend an Beliebtheit. Zumeist durch Losverfahren ausgewählt, um die betroffene Grundgesamtheit abzubilden erarbeiten die Teilnehmenden Lösungsvorschläge für vorgegebene Problemstellungen. Die Ergebnisse werden dem Auftraggebenden in der Regel einem Parlament oder anderweitigen demokratischen Institution in Form einer Empfehlung vorgelegt.
Die Einsatzbereiche variieren dabei stark. So kommen Bürgerräte mittlerweile nicht mehr nur auf lokaler Ebene, sondern auch auf nationaler (Bürgerrat Deutschlands Rolle: Bürgerrat Deutschlands Rolle in der Welt (buergerrat.de)) und sogar globaler Ebene (Globaler Bürgerrat fordert Klimaschutz (buergerrat.de)) zum Einsatz.
Hierbei steht allerdings immer die Frage im Raum: „Was kann ein Bürgerrat leisten?“ Grundsätzlich bewegt sich das Konzept des Bürgerrats nämlich in einem gewissen Widerspruch. Zum einen soll er Beteiligung ermöglichen, zum anderen haben die Ergebnisse nur konsultativen Charakter. Die Entscheidungsgewalt liegt immer noch bei den demokratisch gewählten Personen der jeweiligen Institution. So besteht die Gefahr, dass die Ergebnisse des Bürgerrats keine oder nur wenig Beachtung finden und sich bei den Teilnehmenden Frustration einstellt.   

Bedingungen für gelungene Bürgerräte 

Es steht also die Frage im Raum: „Wie können Bürgerräte erfolgreich sein?“  

Zur Beantwortung dieser Frage lohnt sich ein Blick auf eine Studie der Konrad Adenauer Stiftung zum Thema Bürgerräte, die im März dieses Jahres veröffentlicht wurde (Konrad-Adenauer-Stiftung - Bürgerräte als Zukunftsmodell? (kas.de)). Die Autorinnen und Autoren stellen nach einer umfangreichen Analyse 5 Thesen für einen erfolgreichen Umgang mit Bürgerräten auf.   

  • These 1: Das Parlament muss klarer Auftraggeber des Bürgerrats sein, um eine Legitimationskonkurrenz zu vermeiden. Das Parlament sollte den Bürgerrat initiieren und Abnehmer des erstellten Gutachtens sein. 
  • These 2: Das Parlament sollte sich durch die Einrichtung einer Geschäftsstelle einen Einfluss auf das Verfahren des Bürgerrats sichern. Indem das Parlament Kontrolle über den organisatorischen Prozess behält, wird zusätzlich einer Legitimationskonkurrenz vorgebeugt. 
  • These 3: Damit der Bürgerrat ein neutraler Ort zur Willensbildung sein kann, brauchen die Teilnehmenden Handlungsspielräume innerhalb der gesetzlichen Vorgaben. Die Teilnehmenden sollten demnach das Verfahren in Teilen mitbestimmen können. Wichtig sind in diesem Kontext kompetente Moderatoren und Moderatorinnen, um eine neutrale Verfahrensgestaltung zu gewährleisten. 
  • These 4: Erwartungen an Bürgerräte sollten reduziert werden. Oft werden Bürgerräte als die neue demokratische Revolution bezeichnet. Aufgrund ihres rein konsultativen Charakters hält sich der Einfluss von Bürgerräten jedoch in Grenzen. Zudem kommen durch das losbasierte Verfahren oft nicht die Menschen zu Wort, die sich explizit zu dem Thema äußern wollen und so wird man diese Personen auch nicht von politischen Entscheidungen überzeugen können. Bürgerräte sind also kein Garant für politische Beteiligung noch für automatische Akzeptanz. Bürgerräte wollen also gut geplant und ihre Bedeutung angemessen kommuniziert werden. 
  • These 5: Damit Bürgerräte eine breite gesellschaftliche Wirkung entfalten können, müssen sie von einer breiten öffentlichen Kampagne begleitet werden. Eine solche Kampagne dient dazu, einerseits den Prozess transparent zu machen und andererseits die Ergebnisse in einen öffentlichen Diskurs einzubinden.           

Fazit: Ein Blick in die Praxis – Bürgerräte in Baden-Württemberg 

Wir sehen also, Bürgerräte sind nicht das Allheilmittel für demokratische Probleme, dennoch können sie an der richtigen Stelle, im richtigen Format und mit adäquaten Erwartungen erfolgreich sein.
Dies zeigt auch ein Blick in die Praxis aus Baden-Württemberg. So zeichnet eine Folge-Studie der Konrad Adenauer Stiftung, die im Oktober erschienen ist, ein allgemein positives Bild (Konrad-Adenauer-Stiftung - Bürgerräte: Erfahrungen aus der Praxis von Baden-Württemberg (kas.de)). Die Veranstaltung von 8 losbasierten Beteiligungsformaten kann den Autorinnen und Autoren zufolge als Erfolg gewertet werden (mehr dazu in unserem Blog: Studie zeigt, Bürgerbeteiligung per Zufallsauswahl funktioniert / NeulandQuartier). Auch diese Analyse zeigt, dass es klare Rahmenbedingungen, eine professionelle Prozessgestaltung sowie einen geregelten Umgang mit den Ergebnissen für einen erfolgreichen Beteiligungsprozess braucht. Darüber hinaus stellen sie fest: Eine frühzeitige Einbindung der Bürger und Bürgerinnen sowie eine umfassende Faktenklärung sind grundlegende Faktoren für das Gelingen eines Bürgerrats.   

Was im schlimmsten Fall passieren kann, wenn diese Empfehlungen keine Beachtung finden, war im Fall von Stuttgart 21 zu beobachten. Auch die neue Bundesregierung hat den Bedarf neuer Beteiligungsformate erkannt und hält in ihrem Koalitionsvertrag fest: „Wir wollen die Entscheidungsfindung verbessern, indem wir neue Formen des Bürgerdialogs wie etwa Bürgerräte nutzen, ohne das Prinzip der Repräsentation aufzugeben. Wir werden Bürgerräte zu konkreten Fragestellungen durch den Bundestag einsetzen und organisieren.“ (Koalitionsvertrag 2021, S.9).
Inwiefern dies aber Wirklichkeit wird, bleibt abzuwarten. So hatte schon die große Koalition 2017 die Einsetzung einer Expertenkommission zum Thema Bürgerbeteiligung angekündigt, diese aber in der nun abgelaufenen Legislaturperiode nicht mehr realisiert. (Koalitionsvertrag 2017, S.163).