Die Konstruktion politischer Wirklichkeit: Daten, Fakenews, Emotionen und KI – Gedanken zur Bundestagswahl

Die anstehende Bundestagswahl am kommenden Sonntag ist ein guter Anlass, kurz innezuhalten und sich darüber bewusst zu werden, wie politische Wirklichkeit konstruiert wird und unsere Wahlentscheidung maßgeblich beeinflusst.
Ausgangspunkte meiner Überlegungen sind dabei das großartige Werk „Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit“ der Soziologen Peter L. Berger und Thomas Luckmann, das bereits Ende der 60er Jahre erschienen ist sowie die jüngere Publikation der Kommunikationswissenschaftler Nick Couldry und Andreas Hepp „Die mediale Konstruktion der Wirklichkeit - Eine Theorie der Mediatisierung und Datafizierung“.
Berger und Luckmann betonen, dass gesellschaftliche Wirklichkeit sozial konstruiert wird: durch Interaktionen, Kommunikation und gemeinsame Deutungsmuster. Medien spielen dabei eine zentrale Rolle, da sie gesellschaftliche Diskurse prägen.
Couldry und Hepp erweitern diesen Ansatz, indem sie auf die Rolle digitaler Medien und die tiefgreifende Mediatisierung hinweisen. Sie zeigen, wie Datenströme, Algorithmen und soziale Plattformen die Wahrnehmung politischer Realitäten formen und wie sich „der Charakter des sozialen Lebens und der Gesellschaft mit digitalen Medien verändert“. Dabei entstehen neue Mächte über Aufmerksamkeit und Deutungsmuster, die mit ihren Plattformen wie z. B. Meta (Facebook/Instagram) und X (ehemals Twitter) die öffentliche Meinungsbildung maßgeblich prägen.
Politische Kommunikation heute: Daten, Emotionen, Fakenews und KI
Datengetriebene Kommunikation nutzt digitale Daten zur gezielten Ansprache politischer Zielgruppen. Algorithmen personalisieren Inhalte und schaffen Filterblasen. Besonders bedeutend ist der Einfluss von Emotionen: Politische Einstellungen sind oft stärker emotional als rational geprägt. Microtargeting-Strategien sprechen gezielt Emotionen wie Angst, Hoffnung oder Empörung an und verstärken so Polarisierungstendenzen.
Fakenews, emotional aufgeladene Falschinformationen, verbreiten sich rasant und untergraben das Vertrauen in etablierte Medien. Das Phänomen der „True Enough Reality“ zeigt, dass Menschen häufig emotionale Narrative über belegbare Fakten stellen und sich mit einfachen Wahrheiten zufriedengeben.
Die Rolle von Künstlicher Intelligenz in Wahlkämpfen
Mit fortschreitender Technologie wird Künstliche Intelligenz (KI) eine immer größere Rolle spielen. KI-gestützte Tools ermöglichen die Analyse riesiger Datenmengen zur Vorhersage von Wählerverhalten und eine noch präzisere Zielgruppenansprache. Gleichzeitig birgt der Einsatz von KI Risiken, etwa die automatisierte Verbreitung manipulativer Inhalte durch Deepfakes oder generative Textsysteme, die gezielt Desinformation streuen. In Wahlkämpfen dominieren durch KI und datengetriebene Strategien verstärkt, emotionale Botschaften, die rationale Entscheidungsprozesse überlagern. KI könnte Wahlen effizienter gestalten, aber auch die Manipulation öffentlicher Meinungsbildung verstärken.
Meinungsfreiheit zwischen Verantwortung und Regulierung
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob eine stärkere Regulierung der Medien notwendig ist. Einerseits könnte eine solche Regulierung dazu beitragen, die Verbreitung von Desinformation einzudämmen und die Transparenz von algorithmischen Entscheidungssystemen zu erhöhen. Andererseits birgt eine staatliche oder institutionelle Kontrolle von Medien und Plattformen erhebliche Gefahren für die Meinungsfreiheit. Eine zu starke Regulierung könnte dazu führen, dass legitime kritische Stimmen unterdrückt werden oder dass Zensurmechanismen etabliert werden, die sich langfristig gegen demokratische Diskurse richten.
Ein ausgewogener Ansatz wäre daher erforderlich: Mechanismen der Selbstregulierung in der Medienbranche, klare Richtlinien für die Transparenz von Algorithmen und eine stärkere Rolle der Medienkompetenz in der Gesellschaft könnten helfen, die Risiken der Desinformation zu minimieren, ohne dabei in problematische Einschränkungen der Meinungsfreiheit abzudriften.
Bewusstsein und Medienkompetenz als Schlüssel zur konstruierten Wirklichkeit
Die Erkenntnisse von Berger/Luckmann sowie Couldry/Hepp verdeutlichen, dass politische Wirklichkeit das Ergebnis kommunikativer Prozesse ist. Mit dem zunehmenden Einsatz von KI ist es wichtiger denn je, digitale Medienkompetenz zu stärken, Algorithmen transparenter zu gestalten und den Einfluss von Emotionen kritisch zu reflektieren. Besonders im Wahlkampf müssen komplexe Themen verständlich, aber differenziert kommuniziert werden.
Vor dem Hintergrund der hier diskutierten Annahmen ist es essenziell, dass Wahlentscheidungen gut abgewogen getroffen werden. Ein bewusstes Verständnis darüber, wie gesellschaftliche und mediale Wirklichkeit konstruiert wird, kann dabei helfen, manipulative Einflüsse zu erkennen und informierte Entscheidungen zu treffen. Wer sich der Mechanismen der Meinungs- und Willensbildung bewusst ist, kann politische Inhalte differenzierter bewerten und sich gegen vereinfachte Narrative wappnen.
Angesichts der zunehmenden Verbreitung von Desinformation, insbesondere auf Plattformen wie TikTok, ist es dringend erforderlich, dass schulische Bildung verstärkt auf Medienkompetenz und Erkenntnistheorie ('Theory of Knowledge') als Unterrichtsfächer setzen. Schülerinnen und Schüler müssen früh lernen, Informationen kritisch zu hinterfragen, Quellen zu prüfen und manipulative Kommunikationsstrategien zu erkennen. Entsprechende Weiterbildungsformate für die Erwachsenenbildung gilt es ebenso voranzubringen. Nur durch ein solides Fundament an kritischem Denken können sie sich gegen Desinformation wappnen und informierte Entscheidungen treffen.
NeulandQuartier begleitet Akteure dabei, öffentliche Diskurse verantwortungsbewusst zu führen. Unser Ziel ist es, Kommunikationsprozesse so zu gestalten, dass sie Vielfalt, Transparenz und eine kritische öffentliche Debatte fördern.
Weitere Informationen:
- Peter L. Berger; Thomas Luckmann (1966): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Frankfurt am Main: Fischer, 10. Aufl. 1993
Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit (2025): Russische und chinesische Desinformation Bundesrepublik Deutschland, Bevölkerung ab 16 Jahre 28. 11. Bis 04. 12. 2024 – (IfD-Archiv-Nr. 9263 gew.) Umfrage: Desinformation unter jungen Menschen weit verbreitet.
Nick Couldry; Andreas Hepp (2023): Die mediale Konstruktion der Wirklichkeit - Eine Theorie der Mediatisierung und Datafizierung. Wiesbaden: Springer Fachmedien, 2023
- Sylvaine von Liebe; Johannes Roßteuscher (2025), Wie sehr beeinflussen soziale Medien die Wahl? BR für tagesschau.de
- Dunja von Morzé (2025), Parteien und Politiker im Netz. Worauf ich beim Wahlkampf auf Social Media achten sollte. SWR Aktuell.
- ARD 19.02.2025 ∙ Die TikTok-Armee der AfD ∙ WDR
- Media Perspektiven 5/2025: ARD-Forschungsdienst: Nachrichten, Fake News und Wahlen