Parlamentarisches Neuland? Ein Bürgerrat für die Energiewende
Neun von zehn Bürgerinnen und Bürgern in Deutschland befürworten eine stärkere Nutzung der Erneuerbaren Energien (EE). Das ergab Ende 2019 eine repräsentative Umfrage der Agentur für Erneuerbare Energien (AEE). Umso erstaunlicher, dass der Widerstand gegen geplante Bau- und Infrastrukturvorhaben im Bereich der EE oftmals immer noch die mediale Berichterstattung dominiert: Ob eine Bürgerinitiative gegen ein geplantes Erdkabel oder eine Interessengemeinschaft gegen neue Windräder – die Fronten im Vorhaben sind oft schon vor dem Planungsbeginn massiv verhärtet und die Zusammentreffen von Projektträgern und Bürgerinnen und Bürgern gestalten sich spannungsgeladen. Unbemerkt scheint dabei zu bleiben, dass sich im Ziel ein Großteil doch eigentlich einig ist: Ein Netzausbau und -umbau ist notwendig, um vor dem Hintergrund von Klimaschutz und CO2-Reduktion, sowie dem damit verbundenen Transport von Energie aus erneuerbaren Ressourcen, die Energiewende voranzubringen. Um beispielsweise die Potenziale von Wasserstoff als Energieträger zu nutzen, ist ein Aus- und Zubau der bestehenden Gasinfrastruktur notwendig, wie die Bundesregierung unlängst verkündete. Doch wenn sich im Grunde die meisten einig sind, warum liegen Idee und Praxis dann oftmals weit auseinander? Und wie ist dem zu begegnen?
Bürgerbeteiligung weiterdenken
Ohne Bürgerbeteiligung, keine Demokratie. So einfach diese Losung scheint, so sehr gehen Bürgerbeteiligungsverfahren in der Praxis oft an der Sache vorbei. Ein ausgelegter Bebauungsplan im Rathaus, ein fertiges Stadtentwicklungskonzept zur Einsichtnahme – die Frustration über mangelnde Entscheidungsmöglichkeiten im direkten Lebensumfeld erscheint da nur nachvollziehbar. Ein wichtiges Signal für eine neue Form der Bürgerbeteiligung kommt aktuell aus Berlin: Der Bundestag will auf Bundesebene einen Bürgerrat einsetzen. 160 per Los ausgewählte Bürgerinnen und Bürger sollen zusammen mit Expertinnen und Experten ein Gutachten über die Rolle Deutschlands in der Welt verfassen, welches den Fraktionen als zusätzliche Entscheidungsgrundlage dienen soll. Damit betrete man „parlamentarisches Neuland“, so Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble. Frankreich hat seine Bürgerinnen und Bürger bereits konsolidiert: Ein nach dem Zufallsprinzip zusammengesetzter Klimarat hat sich für ein Referendum ausgesprochen, um den Umwelt- und Klimaschutz in der Verfassung zu verankern. Emmanuel Macron wird dies wohl mehr als nur zur Kenntnis nehmen müssen.
Bürgerräte als Motor der Energiewende
Doch auch auf lokaler Ebene – etwa in einem Landkreis oder einer Stadt – könnte ein Bürgerrat Großes bewirken. Zufällig ausgewählte Bürgerinnen und Bürger einer Region kommen zusammen, um über das Fortkommen der Energiewende und die Rolle ihrer Region zu diskutieren – was sich so visionär anhören mag, liegt im Grunde so nahe. Denn ein lokaler Bürgerrat auf Basis der Zufallsauswahl bietet einen entscheidenden Vorteil. Wenn neun von zehn Bürgerinnen und Bürgern eine stärkere Nutzung der Erneuerbaren Energien befürworten und damit ein gemeinsames Ziel formulieren, kann der Rat als Ort des Gespräches und der Konsensfindung dazu dienen, dieses Ziel gemeinsam zu erreichen. Zudem wird durch die Zufallsauswahl deutlich: auch in unserer Region gibt es eine hohe Diversität und damit diverse Meinungen. Ein Bürgerrat entspricht dabei dem Wesen der Demokratie – nicht alle haben die gleiche Meinung. Gemeinsam sind wir aber in der Lage, konstruktive Lösungen für die Herausforderungen unserer Zeit zu finden.
Die Energiewende findet maßgeblich im ländlichen Raum statt
Zweifelsfrei sind es wichtige Signale, die jetzt aus Berlin und Frankreich kommen und den Ländern und Kommunen zeigen, dass hier etwas in Bewegung ist. Aber: die Mühlen der Demokratie mahlen langsam und sorgfältig. Bis das Modell eines Bürgerrates aus dem Bundestag den institutionellen Weg in den ländlichen Raum findet – und damit den Raum, in dem die Energiewende maßgeblich stattfindet – können Jahre vergehen. Doch so viel Zeit bleibt nicht. Wenn wir, wie es der Klimaschutzplan der Bundesregierung vorsieht, 2050 in einer weitestgehend dekarbonisierten Gesellschaft leben wollen, muss der Umbau der Energieinfrastruktur jetzt vorangebracht werden. Zunehmend informierte Bürgerinnen und Bürger wollen genau dies. Sie wollen darüber diskutieren, wie sich die Energiewende in ihrer Region am besten gestalten lässt. Ein regionaler Bürgerrat wird die parlamentarische Entscheidungsfindung nicht ersetzten. Durch seine konkreten Empfehlungen und Vorschläge kann er aber wesentlich dazu beitragen, diese Entscheidungsfindung zu legitimieren und die Infrastrukturvorhaben in der eigenen Region voranzubringen.
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