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08 | 2024Ingo Seeligmüller

Zwischen objektivem Fortschritt und tief verwurzeltem Pessimismus - Wirtschaftliche Erfolge, Zukunftsperspektiven und Vertrauen in Ostdeutschland

<h1>Zwischen objektivem Fortschritt und tief verwurzeltem Pessimismus - Wirtschaftliche Erfolge, Zukunftsperspektiven und Vertrauen in Ostdeutschland</h1>

In den letzten zehn Jahren hat Ostdeutschland bemerkenswerte Fortschritte in seiner wirtschaftlichen Entwicklung gemacht. Dieser Aufholprozess spiegelt sich in den sinkenden Arbeitslosenquoten und der positiven Lohnentwicklung wider, was für viele Regionen ein signifikantes Annähern an das westdeutsche Niveau bedeutet. Trotz dieser objektiven Erfolge bleibt die Stimmungslage in der Bevölkerung düster: Nur eine Minderheit der Ostdeutschen zeigt sich mit der wirtschaftlichen Entwicklung zufrieden. Stattdessen dominiert ein Gefühl von Stagnation oder gar Rückschritt, was besonders im Vergleich zur tatsächlichen Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt einen ausgeprägten Pessimismus offenbart.

Die Kluft zwischen Wahrnehmung und Realität

Eine aktuelle Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) beleuchtet diese Diskrepanz zwischen den objektiven wirtschaftlichen Fortschritten und der subjektiven Wahrnehmung. Während die Arbeitslosenquote in Ostdeutschland deutlich gesunken ist und viele Regionen als Aufsteiger bezeichnet werden können, sehen fast sieben von zehn Ostdeutschen ihre eigene Region weiterhin als stagnierend oder abgehängt an. Diese pessimistische Wahrnehmung ist tief in der Bevölkerung verankert und variiert stark je nach geografischer Lage. Im Westen ist dieser Pessimismus weniger stark ausgeprägt, wo nur etwa drei von zehn Befragten ähnlich negativ über ihre Region denken.

Diese Einschätzung deckt sich auch mit der Analyse des Soziologen Steffen Mau, der in seinem aktuellen Buch „Ungleich vereint: Warum der Osten anders bleibt“ treffend feststellt, dass in Ostdeutschland „negative Emotionen wie Bitterkeit und Unzufriedenheit immer wieder durchdringen, auch wenn die eigene ökonomische Lage oft durchaus positiv gesehen wird“. Diese Emotionen scheinen tief verwurzelt zu sein, was auch andere Experten in ihren Untersuchungen bestätigen.

Demographische Herausforderungen und deren Einfluss

Ein wesentlicher Faktor, der diesen Pessimismus befeuert, ist die demographische Entwicklung. Schrumpfende Bevölkerungszahlen und eine zunehmende Überalterung überschatten die wirtschaftlichen Erfolge. Besonders in den ländlichen Gebieten Ostdeutschlands, die von Abwanderung betroffen sind, wird die Lage zunehmend als aussichtslos empfunden. Diese sogenannten „Frustregionen“ entwickeln sich zu Brennpunkten des Unmuts, was sich auch in der politischen Stimmung niederschlägt.

Politische Extreme wie die AfD oder das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) profitieren von dieser Unzufriedenheit und erzielen besonders in schrumpfenden Regionen starke Wahlergebnisse. Diese Entwicklung ist besorgniserregend, da sie einen Teufelskreis verstärken könnte: Die zunehmende Abwanderung und der demographische Niedergang führen zu noch mehr Pessimismus, der wiederum die Extreme an den politischen Rändern stärkt.

Politische und gesellschaftliche Herausforderungen

Die IW-Studie macht deutlich, dass Politik und Gesellschaft vor enormen Herausforderungen stehen. Es wird zunehmend wichtiger, regionale Anpassungsprozesse aktiv zu gestalten und dabei die Daseinsvorsorge in schrumpfenden Regionen zu sichern. Dazu gehört der Ausbau von Infrastruktur wie Breitbandinternet und öffentlichem Nahverkehr, um diese Regionen attraktiver zu machen und den weiteren Niedergang zu stoppen. Gleichzeitig muss die Regionalpolitik gezielt wirtschaftliche Rahmenbedingungen schaffen, die dem demographischen Wandel entgegenwirken.

Doch fraglich bleibt, ob solche Maßnahmen noch an den bereits stark entfremdeten politischen Rändern durchdringen können. Der Ostbeauftragte der Bundesregierung, Carsten Schneider, hat kürzlich die Herausforderung betont, wie wirtschaftliche Erfolge in diesen Regionen überhaupt noch vermittelt werden können. Die AfD beispielsweise nutzt jede Gelegenheit, um ein apokalyptisches Untergangsnarrativ zu verbreiten und offizielle Statistiken zu diskreditieren.

Vertrauen wiedergewinnen und positive Gegenöffentlichkeit schaffen

Eine zentrale Herausforderung wird es daher sein, das Vertrauen in die politischen und zivilgesellschaftlichen Akteure wiederherzustellen. In Sachsen etwa geben nur noch 15 Prozent der Menschen an, großes Vertrauen in die Medien zu haben. Noch schlechter ist das Ansehen der politischen Akteure in Berlin und Brüssel. Ein Hoffnungsschimmer bleibt jedoch das Vertrauen in die lokale Ebene: Der Bürgermeister genießt noch das Vertrauen von etwa der Hälfte der Bevölkerung.

Die lokale Ebene könnte der Schlüssel sein, um eine positive Gegenöffentlichkeit zu schaffen, die sowohl die Probleme klar und ehrlich benennt als auch die bisherigen Erfolge deutlich sichtbar macht. Der Soziologe Steffen Mau bringt in diesem Zusammenhang neue Formen der Partizipation, wie z. B. Bürgerräte auf kommunaler Ebene, ins Spiel. Eine besondere Rolle könnte aber auch der ostdeutschen Unternehmerschaft zukommen, die trotz eigener Enttäuschungen bereit sein muss, in gesellschaftspolitischen Diskursen eine vermittelnde Position einzunehmen.

Der wirtschaftliche Fortschritt in Ostdeutschland ist unbestreitbar, doch der Weg zur Überwindung des Pessimismus und der demographischen Herausforderungen ist noch lang. „Optimismus ist Pflicht“ schrieb der Sozialphilosoph Karl Popper und meinte damit, dass es die Pflicht eines jeden sei, sich - statt Schlimmes vorauszusagen – für jene Dinge einzusetzen, die die Zukunft besser machen können. Die kommenden Jahre werden zeigen, ob es gelingt, die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Erfolge der freiheitlichen, demokratischen und rechtstaatlichen – kurz der „offenen“ – Gesellschaft im Sinne Poppers stärker sichtbar zu machen und in ein positives Zukunftsbild für die Region zu verwandeln.

Weitere Informationen:

Matthias Diermeier / Christian Oberst / Samina Sultan / Henrik Förster: Regionale Entwicklung im Vergleich. Wirtschaftliche Aufholprozesse in Ostdeutschland unterschätzt? IW-Policy Paper 6/2024, August 2024