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12 | 2025Ingo Seeligmüller

Wie hältst Du es mit den Bürgerräten? Warum eine ehrliche Debatte über Beteiligung notwendig ist.

<h1>   Wie hältst Du es mit den Bürgerräten? Warum eine ehrliche Debatte über Beteiligung notwendig ist.    </h1>

Die Auflösung der Stabsstelle für Bürgerräte beim Bundestag hat in der vergangenen Woche eine ungewöhnlich hitzige Debatte ausgelöst. Zivilgesellschaftliche Organisationen sprechen von einem „fatalen Signal“ für die demokratische Weiterentwicklung, Teile der Medien sehen ein Zurückdrehen innovativer Beteiligungsformate. Doch der Schritt der schwarz-roten Koalition verweist vor allem auf eine Grundsatzfrage, die bislang kaum offen diskutiert wurde: Wo sind Bürgerräte tatsächlich sinnvoll – und wo geraten sie an strukturelle Grenzen? 

Seit Jahren beobachten wir, wie neue Formen der Bürgerbeteiligung in Politik und Gesellschaft verhandelt werden. Die Idee der Bürgerräte ist dabei nicht neu, aber in ihrer Grundform weiterhin bestechend: Eine per Zufallsauswahl zusammengesetzte Gruppe von Menschen erarbeitet Empfehlungen, nachdem sie sich intensiv mit einem Thema auseinandergesetzt und unterschiedliche Expertisen angehört hat. Dieses deliberative Format schafft Räume für Austausch und Verständigung abseits politischer Polarisierung und kann die demokratische Kultur stärken. Viele Reaktionen auf die Auflösung der Stabsstelle beziehen sich auf genau dieses Potenzial von Beteiligungsprozessen. 

Warum Bürgerräte auf Bundesebene an ihre Grenzen stoßen 

Doch die entscheidende Frage lautet nicht, ob Bürgerräte sinnvoll sind, sondern auf welcher politischen Ebene sie ihre Wirkung entfalten. Die vergangene Debatte hat diese Differenz kaum beachtet – dabei ist sie zentral, wenn wir Beteiligung in Deutschland weiterentwickeln wollen. 

Bürgerräte auf Bundesebene tragen ein fragiles legitimatorisches Fundament in sich. Bundespolitische Themen sind hochkomplex, fachlich voraussetzungsreich und strukturell miteinander verwoben. Außenpolitik, Sicherheit, Sozialversicherungssysteme oder Steuerrecht lassen sich nicht ohne tiefes Expertenwissen bearbeiten. Ein deliberatives Laiengremium kann dies nicht leisten und soll es auch nicht ersetzen. Doch genau auf dieser Ebene geraten Bürgerräte schnell in einen politischen Zwischenraum, in dem unklar bleibt, welche Bedeutung ihre Empfehlungen überhaupt haben können. 

Gleichzeitig erzeugt die Zufallsauswahl eine Spannung: Sie erhöht die Diversität, verleiht aber kein politisches Mandat. Je grundlegender die Themen, desto deutlicher wird diese Legitimitätslücke. Die Folge: Die Erwartungen an das Beteiligungsformat steigen, während seine Möglichkeiten begrenzt bleiben. Hinzu kommt, dass es für Bürgerräte auf Bundesebene bislang keine verbindliche Anschlussfähigkeit gab. Die Ergebnisse wurden zwar gewürdigt, aber selten politisch verwertet. Es entsteht ein Ritual der Beteiligung, das viel Aufmerksamkeit erzeugt, aber wenig Wirkung zeigt. Das birgt eine reale Gefahr: symbolische Bürgerbeteiligung, die Erwartungen weckt, aber keine Resultate liefert. 

Solche folgenlosen Beteiligungsprozesse verstärken im schlimmsten Fall Politikverdrossenheit. Menschen investieren Zeit und Energie, fühlen sich gehört – und erleben dann, dass ihre Empfehlungen wenig Einfluss auf politische Entscheidungsprozesse haben. Bürgerbeteiligung braucht Verlässlichkeit; auf Bundesebene ist diese jedoch strukturell schwer herzustellen. 

Vor Ort wirkt Beteiligung: Die Stärke kommunaler Bürgerräte 

Ganz anders stellt sich die Situation auf kommunaler und regionaler Ebene dar. Hier zeigt sich seit Jahren, wie Bürgerräte tatsächlich demokratische Teilhabe stärken. Die Themen sind konkret und nah am Alltag der Menschen: Mobilitätskonzepte, Wärmewende, Bauvorhaben, soziale Infrastruktur oder Stadtentwicklung. Bürgerinnen und Bürger können sich einbringen, weil sie unmittelbar betroffen sind und eigene Perspektiven einbringen können. 

Die Ergebnisse sind transparent, politisch verwertbar und für die Öffentlichkeit nachvollziehbar. Kommunalpolitische Akteure können Empfehlungen prüfen und umsetzen. Dadurch entsteht erfahrbare Wirksamkeit, die Vertrauen in demokratische Prozesse stärkt. Bürgerräte auf lokaler Ebene sind kein abstraktes Beteiligungsformat, sondern ein spürbares Werkzeug für Mitgestaltung. 

„All politics is local“: Demokratie dort stärken, wo sie erlebt wird 

In diesem Zusammenhang wird der oft zitierte Ausspruch all politics is local besonders relevant. Politik gewinnt Legitimation nicht durch abstrakte Debatten, sondern dort, wo ihre Auswirkungen sichtbar werden. Wenn Straßen neu geplant, Wärmenetze aufgebaut oder öffentliche Räume gestaltet werden, entscheidet sich, ob Menschen Politik als gestaltbar erleben. Die Möglichkeit, vor Ort wirksam mitzuwirken, stärkt das demokratische Selbstverständnis nachhaltiger als jede Beteiligungsinitiative auf nationaler Ebene. 

Aus dieser Perspektive erscheint die Kritik an der Auflösung der Stabsstelle überzogen. Sie ist nicht das Ende demokratischer Innovation, sondern eine Chance, die richtige Debatte zu führen: Bürgerräte sind kein universelles Instrument, das für alle politischen Ebenen gleichermaßen geeignet ist. Ihre Stärke liegt dort, wo sie tatsächliche politische Wirkung entfalten können – in Kommunen und Regionen, nicht auf der Bundesebene mit ihren systemischen Komplexitäten. 

Die Debatte der vergangenen Woche sollte nicht darum kreisen, dass ein Format verschwindet, sondern darum, wo es seinen Platz hat. Wenn wir Demokratie stärken wollen, müssen wir Bürgerbeteiligung dort verankern, wo sie Wirkung zeigt: vor Ort, nah an den Menschen, an den konkreten Herausforderungen und Chancen. Die Auflösung der Stabsstelle Bürgerräte ist aus dieser Perspektive kein Rückschritt, sondern eine notwendige Klärung. Sie zwingt uns, Bürgerbeteiligung nicht aus Prinzip, sondern mit Blick auf tatsächliche Wirksamkeit zu gestalten.

Mehr zu unseren Erfahrungen aus Beteiligungsprozessen finden Sie in folgenden Blogbeiträgen: